Worte für Bilder
Vorwort Katalog Raum-Schichten zur Ausstellung in der Galerie 13
Mai 2017
von Prof. Dr. Ralf Frisch
Der mittelalterliche Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues (1401–1464) prägte den Begriff der „coincidentia oppositorum“. Er meinte damit das Zusammentreffen des Gegensätzlichen im Urgrund des Seins. Dort, so Nikolaus von Kues, verbinden sich alle Antagonismen zu einer schöpferischen Einheit. Das göttliche Leben ist ebensowenig wie das menschliche Leben und ebensowenig wie Vernunft und Kreativität von einem Entweder-Oder, geprägt. Tertium datur. Es gibt ein Drittes. Wahrheit und Einheit entfalten sich als fruchtbare Spannung von Gegensätzen und als Zusammenspiel des Verschiedenen. Extreme und Polaritäten brauchen einander, damit wirklich vitale Erkenntnis, wirklich vitales Leben und wirklich vitale Kunst entstehen können.
>Renate Selmayrs Bilder sind der kraftvolle Ausdruck dieser Idee, dass Harmonie und Dissonanz keinen Widerspruch darstellt. Vielmehr setzt gerade das Aufeinanderprallen von Gegensätzen ästhetische Energie frei und fällt so ins Auge, dass die Betrachterinnen und Betrachter mit Farbe und Form Feste des inspirierenden Nichtwiedererkennens feiern können.
Der künstlerische Funke springt erst dann über, wenn sich strenge, strukturierte Ordnung und ungezügelte chaotische Expressivität ineinander verkeilen und aneinander reiben. An diesen Reibungsflächen entsteht Kunst – und zwar genau jene Kunst, die Renate Selmayr schaffen will und die ihr am Herzen liegt. Denn ihrer eigenen Auskunft nach findet sie insbesondere jene ihrer Bilder gelungen, in denen elementare Kräfte freiwerden. Nur diese Kräfte haben die Macht, unsere Sehgewohnheiten zu erschüttern.
Dem Verfasser dieser Zeilen ging es angesichts der besten Arbeiten von Renate Selmayr so, dass diese zu vibrieren schienen – vielleicht auch deshalb, weil Auge und Geist des Betrachters das Gesehene entweder in totale formale und farbliche Ordnung oder in totales formales und farbliches Chaos aufzulösen suchten, was aber in beiden Fällen nicht gelang. Und dass es nicht gelang, macht die Stärke der Bilder Renate Selmayrs aus, die eine faszinierende coincidentia oppositorum von Irritation und Klarheit und von Kontrolle und Kontrollverlust darstellen.
Im Unterschied zur strengen und disziplinierten Kunst des Mittelalters und der Gotik erklärte es die expressivere Kunst der Moderne zu ihrer Herausforderung, sich im Entstehungsprozess von Bildern vom Zufall überwältigen zu lassen. Kunst wurde in der ästhetischen Moderne auch zu einem kalkulierten Spiel mit dem Zufall, den Künstlerinnen und Künstler so für sich einzusetzen begannen, dass der Zufall im 20. Jahrhundert geradezu als Qualitätskriterium gelten kann. Künstler und Künstlerinnen, die sich auf dieses ästhetische Spiel mit dem Zufall verstehen, beherrschen dann ihr Metier, wenn sie wissen, dass es nicht darum gehen kann, die Kunst zu beherrschen, sondern so von ihr beherrscht zu werden, dass die Kunst den Künstler oder die Künstlerin zum Medium macht. Wer ein solches Medium wird, hat gleichsam eine neue Sprache erlernt, ohne recht zu wissen, wie ihm oder ihr geschehen ist und ohne recht zu wissen, was die Zeichen dieser Sprache, in der die Bilder geschrieben sind, bedeutet. Vielleicht meinte der Philosoph Theodor Adorno (1903–1969) genau dies, als er schrieb, in der Kunst gehe es darum, Dinge zu machen, die wir nicht verstehen. Aber nicht alles, was wir nicht verstehen, ist nichtssagend – im Gegenteil: es kann ungeheuer intensiv sein.
Auch Renate Selmayr ist in gewisser Weise ein solches Medium. Es geht ihr ganz offensichtlich nicht einfach darum, dass ihr etwas einfällt, was sie dann künstlerisch realisiert. Es geht ihr darum, im täglichen Schaffensprozess im Atelier so frei, offen und risikobereit zu werden, dass der Gott der Kunst in ihr Denken und Malen einfallen kann. „Bilder ohne Risiko“, so Renate Selmayr, „sind banal.“ Wenn Künstlerinnen und Künstler dieses Risiko scheuen und sich nicht immer wieder dem Geschehen und dem Ereignis der Kunst überlassen, statt die Kunst mit ihrem Können kontrollieren zu wollen, droht ihnen die Gefahr, langweilige Bilder herzustellen, die weder der Rede noch eines Blickes wert sind.
Nur das befremdlich Intensive erzeugt Aufmerksamkeit. Nur das noch nie Gesehene lässt uns innehalten und ein zweites Mal hinschauen. Nur das, was durch ein Anderssehen und durch den Einbruch des ganz Anderen in den kreativen Prozess entstanden ist, lässt uns selbst die Dinge anders sehen und öffnet uns Türen der Wahrnehmung einer anderen Wirklichkeit. In großen Kunstwerken – mögen sie naturtreu oder abstrakt sein – scheint diese andere Wirklichkeit hindurch. In großen Kunstwerken bricht die Oberfläche der Dinge und die Oberfläche der Leinwand wie eine Erdkruste auf, unter der auf einmal die glühende Lava des Erdinneren sichtbar wird.
Kunst ist, wie Caspar David Friedrich (1774–1840) notierte, ein Spiel; aber sie ist ein ernstes Spiel. Wir können im Leben wie in der Kunst den festen Boden unter den Füßen verlieren, wenn der glühende, vibrierende und vernichtende Abgrund des Seins aus der Tiefe an die Oberfläche unseres Daseins drängt. Die Kunst des Lebens besteht darin, über diesem Abgrund und mit diesem Abgrund zu leben und dennoch Grund und Mut zum Leben zu finden. Die Kunst der Kunst besteht darin, diesen Abgrund sichtbar zu machen und doch nicht zuzulassen, dass die Kunst gänzlich ihre Fassung verliert und dass disziplinierte Kunst verunmöglicht wird. Was für das Leben gilt, gilt also auch für die Kunst. Man muss ihr ihre Tiefe und ihre Abgründe anmerken. Berührend ist gerade diejenige Kunst, die den Einbruch des Chaos und den Einbruch der elementaren, irritierenden und verstörenden Gewalt von Form, Formlosigkeit und Farbe in die Ordnung des Schaffens nicht abwenden will. Nur so berührt sie die Menschen, denen sie sich zeigt und denen sie sich ausliefert.
Renate Selmayrs Bildschichtungen erzählen die Geschichte des schöpferischen Zusammenfalls der Gegensätze, des Einfalls des Ungesehenen und des Zufalls der Inspiration. Man kann in diese Bilder hineinhören und sich von ihnen – so abstrakt sie auch sein mögen – ihre Geschichten erzählen lassen. Wenn man sich dafür Zeit nimmt und dies tut, wird man das Rauschen der Welt und das Lied, das in allen Dingen schläft, aus ihnen vernehmen.
Der Lyriker Hans Carossa (1878–1956) beklagte es, dass wir im Lärm der Welt das Summen der Weise Gottes nicht mehr hören. Dieses Rauschen und Summen ist elektrisierend und zutiefst beruhigend zugleich. Es lässt mich den Wunsch empfinden, mit dem einem oder anderen Bild von Renate Selmayr zu leben. Und dass ich diesen Wunsch empfinde, zeigt, dass Renate Selmayrs Bilder gute Bilder sind. Denn gute Bilder sind Bilder, die man gerne besitzen, die man täglich betrachten und denen man es gestatten möchte, ein Leben lang von ihnen betrachtet und begleitet zu werden.