Wasserfarben
in der Artothek München, mit Arno Backhaus
12. Juli 2006
von Dr. Angelika Burger
Ausschnitt der Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung.

Renate Selmayrs Malerei erfreut durch das Auge die Seele. Das Vokabular, mit dem sie ihre Bilder baut, besteht  aus licht durchscheinenden Farbflächen unterschiedlicher Dichte, Struktur und Ausdehnung. Die Kompositionen formen sich zudem aus markanten streifenartigen Bahnen oder dunkelfarbigen Balken, schmalen, mehrfarbigen Bändern und leuchtenden Randzonen sowie aus organisch bogenförmig auseinander gespreizten Vertikalen. Auch Verzweigungen und Formmuster sind anzutreffen. Diese Bauelemente, die in Schichtung übereinander gelegt werden, gliedern und strukturieren die Gesamtfläche sowohl in der planen Ebene als auch in die Tiefe hinein.

Die markanten, eingelassenen oder darüber gelegten Balkenformen erscheinen als strenges Gitterwerk. Man mag damit durchlässige Jalousie- oder Zaunstrukturen assoziieren. Sie können ebenso als Flechtmuster oder von oben gesehene Wegkreuzung, Straßenverzweigung einer Großstadtmetropole wahrgenommen werden. So kommt es bei den dunklen, blauschwarzen, nächtlichen Balkenformen oder Streifengittern zu ungeahnten, überraschenden Durchblicken, Blicken in die Tiefe, in leuchtend farbige, sonnige Lichtungen, die nach Verheißung klingen und das Herz erfreuen. Diese Öffnungen in die geschichtete Tiefe, sei  es als schmaler Spalt zwischen senkrechten Streifen – ähnlich dem „zip“ der Bilder Barnett Newmans-, als auseinanderspreizen biegsamer Vertikalen zu Arabeskbögen  – was an die Formgebung sowohl Henri Matisse als auch Robert Motherwells denken  lässt – oder als horizontale Durchblicke und fensterartige Rechtecke, diese Durchblicke ermöglichen Erfahrungen von aufscheinendem Farblicht, nicht unähnlich dem Erlebnis von Glasfenstern. In diesem Zusammenhang sei an Arbeiten von Georg Meistermann oder an Akkorde des Bauhausmeisters Johannes Itten erinnert. Als charakteristisch erweisen sich die farbigen Randphänomene, entstanden als Reste ehemaliger, ausgewaschener Farbfelder oder nicht deckungsgleicher Farbfeldschichtung.

Renate Selmayr bezieht ihre Anregungen sowohl aus der Natur als auch der gebauten Architektur, dem farbenprächtigen Indien oder nächtlicher Neonbeleuchtung und bunt leuchtender Werbeflächen in New York und anderer Metropolen, Licht- und Farberfahrung ferner Länder verbindet ihre Arbeiten mit Paul Klees Farbskalen betörender Schönheit, den sanften  Übergängen von Ocker, Orangegelb, Rotorange und Karminrot. An diese beglückenden Farbgewichtungen erinnert ein Blatt, dessen Flächen sich in Beige, Gelborange, Orangegelb, darübergelegtem Violettrot und Schwarz zu einer harmonisch ausponderierten  Architekur formen. In einem weiteren Bild blickt man durch blauschwarze und dunkelblaue Balken auf ein lichtbeiges Dahinter, das in der mittigen Tiefe das unerwartete Geheimnis leuchtender Buntfarben – wie Gelbgrün, Gelb, Grünblau-, die lebhaft und verheißungsvoll nach vorne drängen, birgt.

Renate Selmayr bevorzugt Farbtöne wie dunkel leuchtendes Schwarzkarminrot, helles pink toniges Karminrosa, Rotorange, dunkles Violettblau mit Schwarzblau und Braun in Verbindung mit hell leuchtendem Türkisblau, Türkisgrün, Gelbgrün und Gelb. Gerade die Farbzusammenstellung von leuchtendem Türkisgrün und Schwarz  lässt an die wunderbaren Fenstertüren – Bilder des von Renate Selmayr verehrten Henri Matisse denken.

Während des Entstehungsprozesses, der für die Malerin immer  Überraschungen, Unvorhergesehenes  ergibt und entsprechende Reaktionen provoziert, Entscheidungen fordert, entstehen mitunter auch chemische Reaktionen des wässrigen Mediums in Form von durchlässigen Binnenstrukturen oder fransigen Auswaschungen, die Lebendigkeit und Bewegung erzeugen und jeglicher Starre  entgegenwirken. Es sind dies feine Fließspuren, ähnlich einem schwammartigen, feinlöchrigen Abklatsch oder flechtenartigen Bewachsungen, vergleichbar mit Johannes Ittens  Tuschzeichnungen über seinen Farbfelderkompositionen oder malerischen Techniken von Max Ernst, die Durchblicke ermöglichen. Der einerseits kontrollierte, dann aber auch bis zu einem gewissen Grad sich selbst überlassene Entstehungsprozess der Entwicklung und Behauptung von Farbtönen durch Schichtung, Überlappung, Durchlässigkeit, Abstoßung gleicht dem Vorgang naturhaften Werdens. Typisch dafür sind die oftmals nicht homogen geschlossenen Farbflächen, ihre wässrigen Ausfransungen oder das Hereinragen andersfarbiger, blumiger Auswaschungen.  So handelt es sich Niemals um strenge geometrische Formen, sondern um solche, die dem freien Gestaltungswillen des Materials Rechnung tragen und somit den kontrollierten Zufall mit einbeziehen.

So zeigt eine der Arbeiten in unterschiedlich breiten, übereinander gelagerten horizontalen Farb- und Hell-Dunkeleffekte, die sich aus einer unregelmäßig diaphanen Schichtung von leuchtend bunten Werten rötlicher Tönung mit einer darüber gelegten opakcremefarbenen Folie ergeben. Hier kommt es  zu Unschärfeeffekten, die Assoziationen mit den farbig abstrakten Werken Gerhard Richters oder Materialschichtungen Isa Genzkens zulassen. Das Zusammenwirken von Kontrolle und Entstehen lassen, das sich den Erfahrungen mit dem Material Aussetzen ist hier zum Gestaltungsprinzip erhoben.