Raum-Schichten
Erfahrungen mit den Bilderwelten von Renate Selmayr
Zunächst erleben wir eine Fläche, bedeckt mit ungegenständlichen
Formen und unregelmäßigen Linien, die der Pinsel
geschaffen hat. Das Auge sucht den Konturen nachzugehen,
Formzusammenhänge und Bewegungen zu erfassen, und unversehens
erweist sich die Fläche als geschichteter Raum: Gebilde und
Felder treten kraft ihrer unterschiedlichen Farben und Helligkeiten
in verschiedene Raumtiefen auseinander. Formen überschneiden
sich, überlagern einander und erzeugen so eine komplexe
Raumordnung, die schwer beschreibbar ist und in der nicht eindeutig
zwischen Form und Hintergrund unterschieden werden kann. Das
Betrachten wird zum Erkundungsgang, zur Augenwanderung, zum optischen
Abtasten von Strukturen, die einer mathematisch konstruierbaren
Perspektive nicht gehorchen, aber dennoch räumlich erfahrbar
sind. Renate Selmayrs Bilder, die sich häufig durch einen hohen
Grad an Abstraktion auszeichnen und auf ihrer Autonomie jenseits
aller Wirklichkeitsschilderung bestehen, sind zumindest dadurch mit
der äußeren Welt verbunden, dass sie eine Raumerfahrung
ermöglichen – ohne dass sie dazu der Gegenständlichkeit
bedürften.
Paul Klee, der in den 1920er Jahren zuerst in Weimar und später in
Dessau am Bauhaus lehrte, wies seine Studenten beiläufig darauf
hin, dass sich zweierlei Arten von Raum unterscheiden lassen: die
Räumlichkeit eines Gegenstandes, den wir mindestens prinzipiell
in unserem Blickfeld erfassen können, und den „wirklichen
Raum“, der uns immer und grundsätzlich umgibt. Es spricht
einiges dafür, dass es Renate Selmayr vor allem um die letztere
Art von Raum geht, um den „offenen“ Raum, und nicht um
die Räumlichkeit eines Gegenstandes oder eines Interieurs.
„Wirklich“ sind solche Räume auch in dem Sinne, dass
Renate Selmayrs Bildwelten nicht rein hermetischer Natur sind. Ihre,
sich scheinbar selbst genügenden Formgebilde hängen, wie
vermittelt auch immer, mit unsichtbaren Fäden an der
Erfahrungswelt. Die Bildtitel geben Anhaltspunkte: „Großstadtlicht“,
„Arusha“, „Hommage an Bhutan“, „Verbeugung“,
„Gegen Abend“, „Nacht“. Sie erinnern an reale
Orte, an Situationen und Eindrücke. Und sie verweisen auf die
Natur, auf Tier- und Pflanzenwelten und auf Landschaften, die
mitunter konkret benannt werden: „Fellhorn“, „Gebirge“,
„Impression Freibergsee“, „Gebirgstal“, „Mt.
Meru“. Die bayerische Heimat der Künstlerin kann ebenso
Quelle der Inspiration sein wie Trinidad, das Himalaya-Königreich
Bhutan, oder die Gegend um den Mount Meru in Tansania. Der Regenwald
ebenso wie ein heimisches Dickicht oder ein Kahlschlag.
Zeit ist eine Erfindung der Menschen, Raum
ist der Palast der Götter“, schrieb Max Beckmann 1948
während seiner Lehrtätigkeit am Stephen College (Columbia,
Missouri) in den „Drei Briefen an eine Malerin“. Mit
expressionistischem Pathos wird hier das Moment der Dauer beschworen,
das unabdingbar zum Vorstellungskomplex „Raum“ gehört,
während „Zeit“ per se
ein Verfließen und Vergehen ist. Die – relative –
Dauer der Natur, die als Raum letztlich alles Leben umgreift, in der
sich Wandel und Wechsel zyklisch ereignen, während sie selbst
bestehen bleibt, übt auf Künstlerinnen und Künstler
bis heute eine ungebrochene Faszination aus. Dabei kann die Begegnung
mit der Natur, die nicht als Staffage und Hintergrund dienen soll,
sondern um ihrer selbst willen aufgesucht wird, viele Formen
annehmen.
Diejenige, die für lange Zeit die wirkmächtigste war, bildete sich an
der Wende vom 18. zum 19. Jahrhunderts heraus, als in der Epoche der
Romantik die Natur zu einem zentralen Gegenstand der Künste
wurde. Den Romantikern war die Natur nicht einfach nur ein Raum, ein
Gefäß, für mehr oder weniger malerische Sujets,
sondern ein Raum der Begegnung mit dem Göttlichen oder dem
Geistigen, an dem auch das der Natur gegenüber stehende
Individuum Anteil hat. Eine dialektische Bewegung also, die ebensogut
zum objektiven Geist – dem Göttlichen – wie auch in
die Tiefen des eigenen Ich führen konnte.
Caspar David Friedrich (1774-1840), der wohl bedeutendste deutsche
Landschaftsmaler der romantischen Epoche und nach dem Urteil des
französischen Bildhauers David d'Angers (1788-1856), der ihn in Dresden besuchte, derjenige, der die
Tragödie der Landschaft entdeckt hat, fand das Göttliche
überall, auch in einem Sandkorn. Freilich war nach Friedrichs
Überzeugung nicht jeder zu solcher Erkenntnis fähig: „Der
edle Mensch erkennt in allem Gott, der gemeine Mensch sieht nur die
Form, nicht den Geist“. Diese Erkenntnis bedurfte der Kunst als
Mittlerin: „Den Geist der Natur erkennen und mit ganzem Herzen
und Gemüt durchdringen und aufnehmen und wiedergeben, ist die
Aufgabe eines Kunstwerks“ (C. D. F., „Äußerungen
bei Betrachtung einer Sammlung von Gemälden von größtenteils
noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern“,
um 1830).
„
Landschaft“, so formulierte es 1971 der amerikanische Literaturwissenschaftler
Meyer Howard Abrams, artikulierte und spiegelte die ungeformten
Gefühle, die ihr vom wahrnehmenden Bewusstsein entgegengebracht
wurden: „Das Bewusstsein findet in der Landschaft, was es
aufzunehmen bereit ist, und was es findet, ist sein eigenes Antlitz“.
Kunst, die vor diesem Hintergrund entstand, ging in ihren besten
Momenten sowohl über das Deskriptive als auch über das
Sinnbildliche, Symbolische und Allegorische hinaus. Die besten Werke
der Landschaftsmalerei beziehen ihre alterlose Lebendigkeit aus ihrer
atmosphärischen Dichte – und ihrer Vieldeutigkeit.
Nach den tiefen Brüchen in den verschiedenen Phasen der Moderne
scheint die realistische und naturalistische Formensprache jener
Kunst, die sich an der schaubaren Wirklichkeit orientierte und gern
in einem oberflächlichen Sinn als „naturgetreu“
missverstanden wurde, nicht mehr benutzbar zu sein. So, wie auch die
Vorstellung, dass das Göttliche oder das Geistige in der Natur
anzutreffen ist, den meisten heutigen Zeitgenossen anachronistisch
erscheint. Die Essenz einer Begegnung mit der Natur – überhaupt
mit der Außenwelt, auch mit anderen Menschen – kann mit
diesen Mitteln nicht mehr unmittelbar formuliert werden. Als bloße
Zitate verwendet, rufen sie Distanz und Ironie hervor. Das nicht
Darstellbare, gleichsam die Innenseite der Erfahrung, ist damit nicht
mehr evozierbar.
Aber gerade solche Erfahrungen versuchen die Bilder von Renate Selmayr zu
vermitteln. Die Acrybilder ebenso wie die Hinterglasbilder und die
Farbholzschnitte. Fragmente „realistischer“ Formen
verweisen andeutungsweise und verfremdet auf die äußere
Welt. Formen und Farben bilden die optischen Äquivalente ihrer
Eindrücke, Erlebnisse und Reflexionen. Geklärt und geformt
in einem Schaffensprozess, der sich nicht selten über einen
längeren Zeitraum erstreckt. Farben in ihren vielfältigen
Kontrasten, Schattierungen und Nuancen schaffen durch entschiedene,
schroffe oder auch spielerische Bewegungen eine Atmosphäre, die
sich verdichtet, je intensiver man ein Bild betrachtet. Dabei kann
eine geradezu magische Wirkung entstehen, die im Einzelfall durchaus
auch zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit hin und her
pendelt. Etwa wenn das Auge auf dem Gemälde „Gebirgstal“
(2016) den zackigen, an Bergkämme und Gipfel erinnernden Linien
im oberen Bildteil folgt und dann schroff und steil nach unten
geführt wird, wo ein gelbliches, ein blaues und ein grünes
Farbfeld breit hingelagert sind – und sich in den Blautönen
verliert, in die die Szenerie getaucht ist. Der Eindruck changiert
zwischen lyrischer Stimmung und der Wahrnehmung von konkreten
Landschaftselementen.
Andere Arbeiten halten deutlicheren Abstand zur äußeren
Wirklichkeit und eröffnen dem Betrachter und seinen
Assoziationen und Empfindungen einen weiten Spielraum. Auf eine
Formel zu bringen, ist das nicht. Bild geworden, ermöglichen die
inneren und äußeren Welterfahrungen der Künstlerin
eine Vermittlung dessen, was verbal nicht mitgeteilt werden kann. Die
Kunst ist eine Mittlerin. Das gilt heute so wie zu Caspar David
Friedrichs Zeiten. Und Renate Selmayrs Bilder vermitteln mit einer
Intensität und bildnerischen Überzeugskraft, die man nach
näherem Kennenlernen nicht mehr missen möchte.
Andreas Kühne/ Christoph Sorger