Unsichtbares sichtbar machen
Einführung zur Ausstellung Renate Selmayr – Hinterglasbilder – Holzdrucke, Üblacker-Häusl München
21. April 2009
von Brigitte Eva Klebac M.A., München
Ich begrüße Sie auch ganz herzlich zur Ausstellung „unsichtbares sichtbar machen” mit Hinterglasbildern und Holzdrucken von Renate Selmayr.
Der Titel „unsichtbares sichtbar machen” bezieht sich hier vor allem auf die Malerei und im besonderen auf die Abstraktion. Im Jahr 1920 formulierte Paul Klee „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar”. Klee begriff die Kunst nicht als Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern als Schöpfungsakt parallel zur Natur. Wie die Surrealisten experimentierte er mit dem psychischen Automatismus zur Freisetzung innerer Bilder und bezog sich stets auf die große Bedeutung des Unbewussten in der Kunst.
Und Henry Matisse, einer der Väter der Moderne und Begründer des Fauvismus, kommentierte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Malerei: „Ich entnehme der Natur; was ich gerade brauche, um auf die wirksamste Weise dem mir vorschwebenden Gedanken Ausdruck zu verliehen. Mir ist es nicht möglich, die Natur sklavisch zu kopieren. Ich bin gezwungen, sie zu interpretieren und dem Geist des Bildes zu unterwerfen”. Die Ausdruckskraft der reinen Farben und das Spiel der Linien waren für Matisse autonomes bildnerisches Gestaltungsmittel von Flächen und Bildräumen zugleich.
Heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, weiß jeder mit dem Begriff „Abstraktion” individuell etwas anzufangen. Weiß zum Beispiel, dass er sich vom Gegenständlichen löst, dass er eine eigene Welt und Wirklichkeit darstellen möchte. Und dass es dabei um Farbe und Form geht, aber auch um die Beziehung von Linie, Fläche, Raum und Zeit, Emotion und Reflexion.
Die Arbeiten von Renate Selmayr stehen in der kontinuierlichen Linie einer freien künstlerischen Abstraktion, die sich seit ihrem Beginn stets vital, autonom und radikal weiterentwickelt und selbstbewusst artikuliert hat. Im Gegensatz zu ihren großformatigen, oftmals strengeren geometrischen Leinwandbildern werden heute hier und zum ersten Mal kleinerformatige, sehr farbintensiv leuchtende Hinterglasbilder in freieren und zeichenhaften Formen in Acryltechnik gezeigt. Im 2. Raum finden Sie mehrfarbige Holzschnitte, die in ihrer satten Papierfarbigkeit und zarten bis kräftigen Ornamentik eine reizvolle ästhetische Ergänzung bilden.
Die Arbeiten sind in Formen und Farben vielfältig differenziert. Sie zeigen dichte oder durchbrochene Farbfelder, Streifen, Linien, Bögen, unregelmäßige Gittermuster, netzartige Strukturen oder verschlungene Arabesken in vitaler und leuchtender Farbintensität. Viele Farbschichten sind mit dem Pinsel übereinandergelegt und werden dann teilweise wieder mit der Spachtel weggenommen. Dieser Prozess kann über mehrere Monate andauern, bis sie ihre konkrete Form und Gestaltung im Sinne der Künstlerin gefunden haben. Der Malprozess ist naturgemäß ein anderer als auf den Leinwandbildern. Er findet auf der Rückseite statt, der Bildträger ist glatt und nicht saugend, der Farb- und Bildaufbau entsteht in umgekehrter Reihenfolge: das vorderste zuerst, dann viele Schichten darüber und zum Schluss die letzte Farbschicht als Bildgrund.
Immer wieder haben sich Künstler seit dem Mittelalter bis heute mit der Glasmalerei kreativ auseinandergesetzt. Berühmt sind die expressiven Glasmalereien von Gabriele Münter, die sie in Murnau geschaffen hat. Und überhaupt die bäuerliche naive Glasbildersammlung von ihr und Kandinsky, wie sie im Werdenfelser Land seit Mitte des 17. Jahnhunderts produziert wurde und im Lenbachhaus ausgestellt vielen von ihnen sicherlich bekannt ist. Zuvor erreichte die Glasmalerei ihren Höhepunkt in den sakralen monumentalen Kirchenfenstern in den großen französischen gotischen Kathedralen. Sie wurden zu farbig leuchtenden Bilderzählungen und zu mystischen Lichtquellen, die bis heute ihre transzendentale Wirkung nicht verfehlen. Als jüngstes Beispiel sind die 100 kleinformatigen, paarweise einander zugeordneten Hinterglasbilder von Gerhard Richter zu nennen, die derzeit zusammen mit seinen großformatigen abstrakten Bildern im Haus der Kunst zu sehen sind. Er hat auch im Kölner Dom ein riesiges Glasfenster mit mosaikartigen über 11.000 farbigen mundgeblasenen Glasteilen gestaltet.
Renate Selmayr schöpft wie die Protagonisten der ersten Stunde der Moderne, aus einem tiefen und individuellen Naturempfinden. Es ist aber auch das gesamte heutige Lebens- und Arbeitsumfeld, das sie umgibt und unterbewusst beeinflusst. Dazu gehört die Stadtarchitektur genauso wie die Ästhetik einer Technik, die mediale und digitale Welt mit ihren schnell bewegten und flimmernden Bildern überall. Sie wirken wie Lichtblitze und Reflexe einer Großstadtkulisse, die sich fragmentarisch oder unterschwellig ins Gedächtnis einprägen. Auch intensive Eindrücke von Reisen, unter anderem in das kultur- und farbenpralle Indien oder in die Metropole New York finden sich künstlerisch reflektiert in den abstrakten Bildwelten wieder. Ihre eigene wunderbare leuchtend-farbenfrohe Glassammlung war vielleicht mitunter auch hier Quelle von Inspiration und Reflexion.
Der Farbauftrag ist ein sehr sensibler und zugleich kräftiger. Im spontan und doch kontrolliert gesetzten Pinselstrich drückt sich die emotionale und ganz persönliche Handschrift der Künstlerin aus. Ihre Studienjahre an der Münchner Kunstakademie bei Rudi Tröger und Manfred Hollmann haben ihr nicht nur das nötige Handwerk, sondern auch den Unterbau für eine aufmerksame Wahrnehmung und die kreative künstlerische Auseinandersetzung mit den komplexen Phänomenen der Welt geschaffen.
Renate Selmayr’s Arbeiten lassen durch ihre vielschichtige und mehrdeutige dichte Struktur und Fülle eine offene und nicht vorgegebene Wahrnehmung und Interpretation zu. Rückschlüsse auf etwaige Gegenständlichkeit oder Naturformen, Bezüge zur inneren und äußeren Welt, erschließen sich dem wachen Betrachter auf ganz individuelle Weise. So können sinnlich-poetische Assoziationen entstehen. Die vitalen und leuchtenden Farben erzeugen eine positive Stimulanz und pure Freude und zugleich vermitteln sie eine visionäre Kraft oder subtile Tiefe. Ein untrügliches Gefühl der Künstlerin für Fläche, Raum, Rhythmus und Bewegung fügen das Bild trotz seiner unruhigen Vielteiligkeit zu einer harmonischen Gesamtkomposition zusammen. Das Vexierspiel mit Farbfeldern, Farbräumen, Formen und Zeichen wird fantasievoll und spannungsgeladen souverän ausgelotet.
Mit heiterer Ernsthaftigkeit gestaltet die Künstlerin ihre plastischen Objekte, deren Bestandteile sie aus unserer Alltagskultur entnimmt. Das können Fast-Food-Schälchen, Styroporteile oder Dinge aus dem Baumarkt sein. Sie gießt sie mit Gips aus, bemalt sie und verbindet sie mit Draht, Wolle, Nylonschnüren oder Haargummis und erzeugt damit ein surreales, oft schrill-groteskes kleinplastisches Gebilde. Ausgestellt sind hier vorne in der Vitrine kleine Objektkästen aus geschnittenem Holz, die bemalt und ebenso kleinteilig in verschiedenen Ebenen zusammengefügt sind. Sie wirken wie surreale Miniatur-Theaterkulissen und sie gibt ihnen Namen wie „Die Perle Sibiriens” . Ihre Experimentierlust und ihre fröhlich-sinnliche Fantasie finden hier ihren vielseitigen kreativen Ausdruck.
Ich wünsche Ihnen nun viel Freude und Entdeckungen von Sichtbarem und Unsichtbarem bei ihrem Rundgang.